
Die wenigsten Menschen, mit denen ich im wissenschaftlichen oder politischen Kontext spreche, würden „den Kapitalismus“ aktiv verteidigen. Im Gegenteil: Auf die ein oder andere Weise befassen sich die meisten sogar ehrenamtlich, aktivistisch oder im Rahmen von Forschungsprojekten mit bestimmten Symptomen des Kapitalismus, z.B. damit, wie er die Entwicklung und den Einsatz von neuen Technologien korrumpiert oder wie er bestimmte Menschengruppen systematisch abwertet. Gleichzeitig habe ich „den Kapitalismus“ nicht zufällig in Anführungszeichen gesetzt. Zwar besteht ein diffuses Bewusstsein darüber, dass der Markt Teil des Problems ist oder dass der Zwang zur Profitabilität gesellschaftlichen Fortschritt erstickt. Ein systematisches Verständnis davon, was genau diese kapitalistischen Grundstrukturen ausmacht oder mit welchen unsichtbaren Dynamiken sie unsere Gesellschaft formen, fehlt allerdings oft.
In diesen Gesprächen oder Diskussionen nehme ich gleichzeitig auch das Bedürfnis wahr, genau das zu ändern und besser analysieren zu können, warum die eigene Forschung, der eigene Aktivismus oder das eigene politische Engagement gegen Mauern rennen, die zwar spürbar sind, aber (noch) keinen Namen haben. Für alle, denen es ähnlich geht oder die aus anderen Gründen ihre progressive-kritische Perspektive vertiefen wollen, ist die nachfolgende Liste von Bücherempfehlungen gedacht. Vorab aber gleich eine Klarstellung: Niemand muss diese Bücher lesen. Niemand muss sich an dieser Liste orientiere. Natürlich ist sie extrem subjektiv und Ausdruck meiner Zugehörigkeit zur weißen Bildungsschicht. Das alles vorweggenommen: Es sind Bücher, die mir Zugang eröffnet haben; Bücher, die ich wertvoll fand und die mir sogar Hoffnung gemacht haben. Vielleicht geht es anderen ja ähnlich.
Grundlagen
Als Grundlagenbücher kann ich „Kapitalismus verstehen“ von Ralf Krämer und „Politische Ökonomie – Ein Einstieg für Neugierige“ von Holger Wendt empfehlen. Beide Büchern befassen sich damit, wie der Kapitalismus in seinen vielen historischen Formen grundlegend funktioniert, welche Rolle Eigentum, Arbeit, Geld sowie Konkurrenz dabei spielen und wie sich diese Grundprinzipien auf unseren Alltag, unser Zusammenleben und unseren Staat auswirken.

Das erste Buch von Krämer habe ich gerade erst in einem Lesekreis gemeinsam mit anderen lesen dürfen. Es ist kostenlos als Download bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung verfügbar und versucht, Lesende bei Null abzuholen. Das gelingt nicht immer, aber man muss auch nicht jeden Aspekt nachvollziehen. Ich habe auch (noch immer) nicht alles verstanden, erst recht nicht, als ich anfing mich mit dem Thema zu befassen. Mir hat es sehr geholfen, Bücher gemeinsam mit anderen zu lesen und sich zum regelmäßigen Austausch zu treffen. Mit Glück entstehen dabei vielleicht sogar Freundschaften.
Dass beide Bücher sich viel auf die Arbeiten von Marx, Engels & Co beziehen, sollte niemanden abschrecken. Man muss die politischen Bewegungen, die sich auf sie berufen, genauso wenig toll finden, wie man Physikerinnen sympathisch finden muss, um die Bewegungsgesetze der Schwerkraft zu schätzen. Wichtig ist einzig, zu verstehen, warum der Apfel vom Baum fällt.
Vertiefung
Eine der spannendsten, weiterführenden Fragen ist für mich, wie sich die kapitalistische Gesellschaftsordnung trotz all ihrer Widersprüche und Ungerechtigkeiten jeden Tag erhalten kann. Wenn doch der Großteil der Menschen ein Leben in Unfreiheit und Ausbeutung lebt, warum stehen wir dann jeden Morgen auf, spielen unsere Rollen weiter und füttern das System mit unserer Arbeit, unserem Konsum und unserem Verhalten? Darum geht es im Buch „Stummer Zwang“ von Søren Mau. Das Buch ist gleichzeitig eine anspruchsvolle wissenschaftliche Abhandlung als auch eine leidenschaftliche Analyse davon, wie kapitalistische Strukturen unseren Alltag, unsere Forschung, unsere Logistik, unsere Landwirtschaft und unsere Technologie derart umgestaltet haben, dass ihre Funktionsfähigkeit (fast) untrennbar davon abhängt, das selbstzerstörerische System fortzuführen. Die ersten Abschnitte des Buchs sind sehr akademisch und ich habe auch nur die Hälfte verstanden, aber je konkreter das Buch im Verlauf wird, umso packender wird es.

Ein weiteres Thema, das mich persönlich sehr interessiert, ist das Zusammenspiel zwischen Rassismus, Diskriminierung und Kapitalismus. Ein extrem lesenswertes Buch darüber ist „Die Diversität der Ausbeutung“ (herausgegeben von Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbo). Das Buch ist ein Sammelband mit tollen Einzelbeiträgen zu Rassismus, Sexismus, polizeilicher Kontrolle, Grenzregimen und Faschismus aus antikapitalistischer Perspektive.

Ich persönlich befasse mich auch viel mit Fragen der Technikregulierung und der digitalen Aspekte des Kapitalismus. Der Sammelband „Theorien des digitalen Kapitalismus“ (herausgegeben von Tanja Carstensen, Simon Schaupp und Sebastian Sevignani) ist wie die vorhergehende Empfehlung ein Sammelband mit durchweg starken bis großartigen Beiträgen zu Themen wie Plattformgenossenschaften, Carearbeit, „KI“ und digitaler Transformation.
Perspektiven
Ebenso häufig wie ich über die Auswirkungen der kapitalistischen Dynamiken diskutiere, lande ich bei Diskussionen darüber, was wir tun und wie Alternativen aussehen können. Natürlich kann ich hier keine 10-Schritte-Anleitung nennen, die sowohl den Weg als auch das Ziel ausformuliert. Ich würde auch allen Personen misstrauen, die es tun. Der gemeinsame, demokratische Ausbruch aus den gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnissen ist vermutlich eine der größten und gleichzeitig facettenreichsten Herausforderungen vor denen wir als Menschheit stehen. Menschliche Gesellschaften sind viel zu vielfältig für One-Size-Fits-All-Lösungen. Es geht mir bei den folgenden Empfehlungen deshalb nicht darum, das eine Buch zu empfehlen, das das perfekte Gesellschaftsmodell ausformuliert und alle überzeugt, die den Kapitalismus bisher noch ganz gut finden. Dass die derzeitigen Verhältnisse keine Zukunft haben, ist meiner Ansicht nach eher eine logische Schlussfolgerung aus der Befassung mit der Funktionsweise des Kapitalismus selbst und hängt nicht davon ab, die perfekte Alternative griffbereit zu haben. Es geht mir in den folgenden Empfehlungen deshalb um Bücher die dazu anzuregen, sich überhaupt wieder aktiv konkrete Alternativen vorzustellen und über den Weg dahin nachzudenken.
Eines der Bücher, das sich mit dem Weg raus aus unserer kapitalistischen Sackgasse befasst, ist „How to blow up a pipeline“ von Andreas Malm. Darin erläutert Malm, wie in der Vergangenheit gesellschaftlicher Fortschritt errungen wurde und beschreibt unter anderem den Weg hin zu Abschaffung der Sklaverei und zur (teilweisen) Einführung des Frauenwahlrechts. Malm zeigt, wie zivilgesellschaftlicher Protest und ziviler Ungehorsam echte Veränderungen bewirkt haben und wie – am Beispiel der Abwendung der Klimakatastrophe – aktuelle Protestformen aussehen können Das Buch war für mich vor allem Inspiration und Ermutigung. Es ist auch auf Deutsch verfügbar, ich kenne allerdings nur die englische Fassung.

Für mich ist das Nachdenken über Alternativen oder das gedanklichen Befassen mit dem, was „danach“ kommt, eine Art Training für den „Hoffnung“-Muskel. Ohne Ziel und aktives Nachdenken über konkrete alternative gesellschaftliche Szenarien würde es mir schwer fallen, mich für Veränderung einzusetzen. Als letzte Empfehlung möchte ich deshalb „Zukunft jenseits des Marktes“ von Samia Mohammed nennen. Bücher, die sich mit demokratischer Verwaltung der Wirtschaft, solidarischer Organisation von Warenproduktion, Carearbeit und Daseinsfürsorge befassen, gibt es sehr viele. Das Buch von Mohammed stellt für den Einstieg populäre Ansätze alternativer Organisationsformen demokratischer Gesellschaften abseits kapitalistischer Verhältnisse dar und ordnet sie ein.
Radikalisiert euch
Vielleicht ergänze ich die Liste bei Gelegenheit oder Bedarf. Bis dahin hoffe ich, dass die Empfehlungen die eine oder andere Person inspirieren und hoffentlich auch radikalisieren für das gemeinsame Ringen um eine solidarische, demokratische und lebenswerte Zukunft aller.